Das Ringen um das Auricher Schützenhaus:Wiederaufbau und wirtschaftliche Herausforderungen in der Nachkriegszeit1. Einleitung: Ein Verein vor den Trümmern seiner ExistenzUnmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand der Auricher Schützenverein vor den Trümmern seiner Existenz. Die britische Militärregierung hatte den Verein als „militärische oder paramilitärische Sportorganisation“ verboten und dessen gesamtes Vermögen eingezogen. Damit verlor der Verein nicht nur seine Daseinsberechtigung, sondern auch seine materielle Grundlage. Das Herzstück dieses Vermögens war das Auricher Schützenhaus samt der angrenzenden Schützenwiese. Weit mehr als nur ein Vereinsheim, fungierte das Schützenhaus als zentrale soziale und finanzielle Lebensader – sowohl für die Schützen als auch für die Stadt Aurich. Es war ein etablierter Gastronomiebetrieb, ein beliebter Anlaufpunkt für Tanzveranstaltungen und größere Feiern und bot zudem Fremdenzimmer zur Vermietung an. Die Einnahmen aus der Verpachtung waren für den Verein von existenzieller Bedeutung. Die Ausgangslage nach 1945 war somit katastrophal: Der Verein war aufgelöst, das Vermögen beschlagnahmt und die Zukunft ungewiss. Die folgenden Abschnitte beleuchten die vielschichtigen Herausforderungen, denen sich die Verantwortlichen in den Folgejahren stellen mussten. Der Bogen spannt sich vom zähen Kampf um die rechtliche Wiederherstellung des Vereins und die Rückgabe des Eigentums über die dringende Sanierung des zusehends verfallenden Gebäudes bis hin zur verzweifelten und letztlich folgenschweren Suche nach einem solventen Pächter in einer von Mangel und Unsicherheit geprägten Zeit. Die in den Vereinsakten erhaltenen Dokumente – von amtlichen Schreiben über Kostenvoranschläge bis hin zu handschriftlichen Bewerbungen – bieten ein einzigartiges Fenster in diese schwierige Epoche des Wiederaufbaus. 2. Der Kampf um die Rückerstattung: Rechtliche und administrative HürdenFür die Auricher Schützen war die rechtliche Situation nach 1945 die grundlegende Hürde, die es zu überwinden galt. Jede Planung für die Zukunft des Schützenhauses hing von einer zentralen Voraussetzung ab: Der neu gegründete „Auricher Schützenverein e.V.“ musste als offizielle Rechtsnachfolgeorganisation des alten Vereins anerkannt werden, um das von der Militärregierung gesperrte Vermögen im Rahmen der Rückerstattungsverfahren zurückzuerhalten. Ohne die Verfügungsgewalt über das eigene Eigentum war an einen geordneten Betrieb oder gar an notwendige Investitionen nicht zu denken. In der Zwischenzeit wurde das beschlagnahmte Vermögen von Treuhändern verwaltet, die von der Militärregierung eingesetzt wurden. Personen wie der Bankdirektor Günther Ohmstede und später der Kaufmann Johann Hermerding übernahmen die schwierige Aufgabe, das Eigentum zu sichern und die Geschäfte zu führen. Ihre Korrespondenz dokumentiert die komplexen administrativen Anforderungen dieser Übergangszeit. Ein Zwischenbericht Ohmstettes an die „Militärregierung Abt. Vermögensbeaufsichtigung“ vom März 1948 illustriert dies eindrücklich: In ihm musste er nicht nur den komplizierten Pächterwechsel und die damit verbundenen finanziellen Regelungen darlegen, sondern auch Verhandlungen mit der Stadt Aurich über die Ausquartierung eines Zwangsbewohners und den Wiederaufbau einer umgestürzten Scheune koordinieren. Die Akten belegen die unermüdlichen Bemühungen der Vereinsführung, den juristischen Schwebezustand zu beenden und die Kontrolle über das Schützenhaus zurückzuerlangen. Doch während dieser administrative Kampf geführt wurde, offenbarte sich parallel eine ebenso dringende und kostspielige Herausforderung: der katastrophale bauliche Zustand des Hauptvermögenswertes. 3. Zustandsanalyse: Das marode Schützenhaus und der SanierungsbedarfDas Schützenhaus war der Dreh- und Angelpunkt für die finanzielle Genesung des Vereins. Als zentraler Veranstaltungsort und Gastronomiebetrieb sollte es die dringend benötigten Einnahmen generieren. Sein fortschreitender baulicher Verfall stellte daher eine direkte und akute Bedrohung für die Zukunft des Vereins dar. Die Akten zeichnen ein desolates Bild des Zustands, der jeden potenziellen Pächter vor enorme Herausforderungen stellte. Die Mängel waren umfassend und betrafen nahezu alle Teile des Gebäudes und der Anlagen: Dachschäden: Ein Schreiben des Stadtbauamts Aurich vom Februar 1949 dokumentiert die gravierendsten Probleme. Nach einer Besichtigung wurden „erhebliche Schäden an der Bedachung“ festgestellt. Eindringendes Regenwasser hatte bereits Folgeschäden an der Dachschalung, den Balken, der Zwischendecke und sogar an der elektrischen Lichtleitung verursacht. Allein für die dringendsten Reparaturen an einer Dachfläche von rund 80 Quadratmetern wurden Kosten von 200 bis 240 DM veranschlagt, wobei eine komplette Teerung und Besandung des gesamten Daches im Frühjahr als unumgänglich galt. Ein Mieter, Karl Günther, schilderte im März 1949 dramatisch, wie das Wasser durch die Decken lief und bereits Teile der Restaurantdecke zum Einsturz gebracht hatte, was eine akute Einsturz- und Brandgefahr durch Kurzschlüsse darstellte. Infrastrukturelle Mängel: In den Bewerbungsschreiben der Pachtinteressenten wird der generelle Renovierungsstau deutlich. So versprach Hermann Oostermann 1947 eine „vollständige Überholung der zZt. bestehenden Toilettenverhältnisse“ und eine „Umgestaltung des Saales“. Herbert Schwedler, ein erfahrener Hotelier, zog seine Bewerbung 1949 explizit zurück, weil die Fremdenzimmer seinen Ansprüchen nicht genügten: „Ein Zimmer ohne Heizung und ohne fliessendes Wasser kann man hier in Norden nur noch vermieten wenn alle anderen Hotels besetzt sind.“ Äußere Anlagen: Auch die Zuwege zum Schützenhaus waren in einem schlechten Zustand. Der Handlungsbedarf zog sich bis ins Jahr 1950, wie Angebote verschiedener Tiefbauunternehmen zur Verlegung und Befestigung des „Schützenweges“ belegen:
Diese Zustandsanalyse macht deutlich, dass jeder neue Pächter nicht nur die monatliche Pacht aufbringen, sondern zugleich erhebliche Eigenmittel in ein heruntergekommenes Objekt investieren musste. Diese Konstellation erschwerte die Suche nach einem geeigneten Kandidaten erheblich und legte den Grundstein für zukünftige Konflikte. 4. Die schwierige Pächtersuche: Ein Spiegelbild der NachkriegsgesellschaftDie Suche nach einem zahlungsfähigen und qualifizierten Pächter für das marode Schützenhaus spiegelte die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der Nachkriegszeit wider. Die beim Verein eingegangenen Bewerbungsschreiben, viele davon handschriftlich in Sütterlin verfasst, bieten einen einzigartigen Einblick in die persönlichen Schicksale, die beruflichen Hoffnungen und die harten ökonomischen Realitäten dieser Jahre. Der Verein musste einen schwierigen Spagat meistern: den Wunsch nach einem professionellen Betreiber mit dem schlechten Zustand des Objekts und der knappen Liquidität vieler Bewerber in Einklang zu bringen. Die Profile der Interessenten waren vielfältig und illustrieren das breite Spektrum der damaligen Gesellschaft: Dieter de Fries (Geschäftsführer des TRANSIT HOTEL): Seine Bewerbung vom September 1949 und die selbstbewussten Nachverhandlungen im Dezember desselben Jahres zeichnen das Bild eines erfahrenen Geschäftsmannes. De Fries, seit 27 Jahren im Fach, schätzte die Risiken des Objekts genau ein. Er lehnte eine Bürgschaftsforderung von 1.500 DM entschieden ab mit dem Argument, er müsse jeden verdienten Pfennig sofort wieder in das Haus investieren. Seine Forderungen waren klar: ein neuer Vertragsentwurf, die vertragliche Zusicherung von Veranstaltungen durch den Verein (Bewirtschaftung des Schützenzeltes, zwei Bälle pro Jahr) und eine garantierte Vertragsverlängerung. Seine Haltung zeigte, dass ein Profi nur unter klaren, abgesicherten Bedingungen bereit war, das Wagnis Schützenhaus einzugehen. Herbert Schwedler (»Hotel zur Post«): Schwedler brachte einen exzellenten beruflichen Werdegang mit, hatte in erstklassigen Häusern gelernt und sogar auf der Kaiseryacht „Hohenzollern“ gearbeitet. Sein Schicksal war jedoch vom Krieg gezeichnet: Er verlor sein Geschäft in Hamburg durch Bombenangriffe und nach eigenen Angaben rund 100.000 RM durch die Währungsreform. Eine über ihn eingeholte Kreditauskunft fiel äußerst positiv aus und bescheinigte ihm Ruf, Charakter und finanzielle Zuverlässigkeit. Dennoch zog er seine Bewerbung nach einer Besichtigung zurück. Die nicht mehr zeitgemäßen Hotelzimmer ohne Heizung und fließendes Wasser waren für ihn ein unkalkulierbares Geschäftsrisiko. Weitere Bewerber: Die Bandbreite der Interessenten reichte von etablierten Gastronomen wie J. Baumann, der im August 1947 den Ausbau zur Speisewirtschaft plante, bis zu Fachkräften wie Gustav Krefting, einem gelernten Kellner, der nach dem Verlust des elterlichen Betriebs eine neue Existenz suchte. Negative Beurteilungen: Die Überprüfung der Kandidaten gehörte zur Sorgfaltspflicht des Vereins. Eine Auskunft über Otto Pophanken aus Leer fiel vernichtend aus: „Pophanken wohnt hier in Leer und lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen. Er war in der letzten Zeit als Arbeiter tätig und bezieht Unterstützung aus soz. Einrichtungen. Für die Übernahme einer Pachtung […] halten wir ihn nicht für geeignet.“ Dieses Urteil offenbart die soziale Realität, in der viele Menschen ohne Kapital und Sicherheiten keine Chance hatten, einen solchen Betrieb zu übernehmen. Am Ende dieses zermürbenden Auswahlprozesses, gefangen zwischen den hohen Anforderungen und der harten Realität, fiel die Wahl auf einen Mann, dessen Versprechungen groß waren, dessen finanzielle Grundlage sich jedoch als fatal unzureichend erweisen sollte: Hermann Oostermann. 5. Fallstudie eines Scheiterns: Die Pachtära Hermann Oostermann (1948–1949)Die Verpachtung des Schützenhauses an Hermann Oostermann im Januar 1948 begann als hoffnungsvolles Projekt, entwickelte sich jedoch rasch zu einer desaströsen Episode, die den Verein an den Rand des Ruins brachte und die enormen wirtschaftlichen Risiken der Nachkriegszeit schonungslos aufzeigte. Teil 1: Vertrag und VersprechungenIn seinem Bewerbungsschreiben vom 28. Juli 1947 präsentierte sich Oostermann als tatkräftiger Unternehmer mit einer klaren Vision. Er versprach nicht weniger als eine grundlegende Modernisierung: Vollständige Renovierung der vorderen Räume Einrichtung eines Speiselokals und von Fremdenzimmern Vollständige Überholung der Toilettenanlagen Umgestaltung des Saales und der Bühneneinrichtung Der am 1. Januar 1948 geschlossene Pachtvertrag legte die Konditionen fest: Eine monatliche Pacht von 350 RM, die Pflicht zur Übernahme aller Nebenkosten wie Grundsteuern und Versicherungen (§ 3) sowie eine drakonische Klausel in § 4, die dem Verpächter bei einem Zahlungsverzug von mehr als 10 Tagen das Recht zur fristlosen Kündigung einräumte. Teil 2: Der finanzielle NiedergangDie Realität holte die großen Pläne schnell ein. Bereits ab Juli 1948, nur wenige Monate nach Vertragsbeginn, geriet Oostermann mit den Pachtzahlungen in Verzug. Die Schulden wuchsen stetig an, was eine Kette von Notmaßnahmen und rechtlichen Schritten nach sich zog: März 1949: Eine Vereinbarung vom 14. März hielt eine Gesamtschuld von 3.755,95 DM fest, die sich aus neun Monatsmieten (3.150 DM) und Forderungen der Stadt Aurich zusammensetzte. Eigentumsübertragung: Um die Schulden zu reduzieren und einer Pfändung zuvorzukommen, übertrug Oostermann Inventar (Tresen, Stühle, Küchenherd, Leuchter etc.) im Wert von 1.528,– DM an den Verein. Es verblieb eine erhebliche Restschuld. April 1949: In einer weiteren Vereinbarung vom 1. April wurden zusätzlich Gläser und Küchengeschirr im Wert von 591,35 DM zur Tilgung der Schulden an den Verein übereignet. Ausgehend von einer bereinigten Gesamtschuld von 2.103,45 DM wurde die verbleibende Restschuldsumme zu diesem Zeitpunkt mit 1.512,10 DM beziffert. Rechtsstreit: Da die Zahlungen weiterhin ausblieben, leitete der Verein rechtliche Schritte ein. Am 28. September 1949 erging ein Versäumnisurteil gegen Oostermann, das nach dessen Einspruchsverzicht rechtskräftig wurde. Schließlich wurde die Zwangsvollstreckung zur Räumung des Schützenhauses eingeleitet und vollzogen. Teil 3: Das NachspielAuch nach der Zwangsräumung blieb der Verein auf einem Großteil der Schulden sitzen. Eine spätere Korrespondenz des Treuhänders Johann Hermerding bestätigt den endgültigen Verlust: „denn auch ich als Treuhänder habe nach eine Forderung von 1800.– DM verloren.“ Die Episode Oostermann war somit nicht nur ein unternehmerisches Scheitern, sondern auch ein finanzielles Desaster für den Schützenverein. Sie steht exemplarisch für die Verletzlichkeit und die enormen Risiken, mit denen Vereine und Geschäftsleute in der wirtschaftlich instabilen Nachkriegszeit konfrontiert waren. 6. Fazit: Ein Fundament für die ZukunftDie Nachkriegsjahre stellten für den Auricher Schützenverein eine kritische Bewährungsprobe dar. Die Existenz des Vereins war von einem Dreiklang aus Herausforderungen geprägt: dem zähen rechtlichen Kampf um die Wiedererlangung des Eigentums, der baulichen Not eines verfallenden Schützenhauses und der wirtschaftlichen Instabilität, die sich in der verzweifelten Suche nach einem tragfähigen Pachtmodell manifestierte. Der Fall des Pächters Hermann Oostermann steht symptomatisch für die enormen Risiken und die schmerzhaften Rückschläge dieser Zeit. Trotz dieser Widrigkeiten zeigen die historischen Dokumente vor allem eines: die bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit und den unermüdlichen Einsatz der Vereinsverantwortlichen. Mit Beharrlichkeit navigierten sie durch administrative Hürden, versuchten den baulichen Verfall aufzuhalten und rangen um eine wirtschaftlich solide Basis für den Neuanfang. Ihr Handeln legte, allen Fehlschlägen zum Trotz, das entscheidende Fundament für den späteren Wiederaufbau und den Fortbestand des Vereins. Die sorgfältige Dokumentation dieser schwierigen Jahre unterstreicht somit nicht nur die damaligen Schwierigkeiten, sondern auch den bleibenden Wert des Vereinsvermögens und die überragende Bedeutung des gemeinschaftlichen Zusammenhalts, der das Überleben und den zukünftigen Erfolg des Auricher Schützenvereins erst möglich machte. |